Kipppunkte
Es ist Montagmorgen. Du liest die Blaupause, den Newsletter, mit dem du Communitys besser verstehst und erfolgreich Mitgliedschaften anbietest. Heute: Wir reden zu viel über die Probleme von gestern.
Hallo!
Ich weiß nicht, was du im Sommer gemacht hast, aber ich habe ab und zu den Spiegel gelesen. Ich spreche nicht von der Nachrichtenseite Spiegel.de, ich spreche von dem Magazin Der Spiegel. Die Älteren werden sich … sparen wir uns die Häme.
Ich habe an meiner Lektüre nichts auszusetzen. Das waren gute Hefte. Gerade im Urlaub kann man viel Zeit verbringen mit so einem Spiegel und lernt was dazu. Inzwischen lese ich natürlich nur noch selten Magazine, obwohl ich lange selbst welche produziert und vollgeschrieben habe und mir das riesigen Spaß gemacht hat.
Es war jedenfalls eine Weile her, dass ich so ein Heft in der Hand hatte. Und irgendetwas kam mir komisch vor. Zum einen war meine Mitte-August-Ausgabe dünn. Sie hatte gerade mal 124 Seiten. Aber etwas war noch anders – ich habe im ganzen Heft nur eine einzige Anzeige entdecken können.

Eine einzige Anzeige im ganzen Spiegel
Zeitschriften haben zwei Haupteinnahmequellen: Anzeigenumsätze (Werbung verkaufen) und Vertriebserlöse (Abos, Kioskverkauf). Anzeigen machten dabei lang den größeren Anteil aus, etwa zwei Drittel des Geldes kam aus dem Verkauf von Seiten an Werbekunden, ein Drittel aus dem Verkauf der Hefte an Leser:innen. Mit dem Aufkommen des Internets verschob sich dieses Verhältnis nach und nach. Im Jahr 2024 kamen beim Spiegel nach eigenen Angaben (Öffnet in neuem Fenster) 75 Prozent des Umsatzes aus dem Vertrieb, 25 Prozent aus Anzeigen. Doch die Anzeigen fehlen in diesem Jahr in einzelnen Ausgaben fast komplett.
In der Ausgabe vom 14. August finde ich gerade mal 2 und ⅓ Anzeigen:

Und auch jetzt, nach einem möglicherweise ruhigeren Sommer, zähle ich in der aktuellen Ausgabe vom Freitag – die eine spektakuläre und aufwändige Recherche enthält und neu gestaltet wurde – mit viel gutem Willen 7 und ⅓ Anzeigen auf 132 Seiten.

Der Einzelverkauf am Kiosk und im Supermarkt geht natürlich immer weiter zurück, auf im zweiten Quartal 2025 weniger als 90.000.

Nur die Abos sind stabil, dank knapp 260.000 digitaler Spiegel-Plus-Kund:innen, die in diese Gesamtzahlen branchenüblich reingemogelt werden – sie haben ja theoretisch Zugriff aufs sogenannte E-Paper, das im Alltag aber nur sehr wenige nutzen dürften. (Zum Vergleich: Die Steady-Publikationen haben zusammen genommen mehr als 260.000 Mitglieder.)
Der Schnee gerät ins Rutschen
Es geht mir keineswegs darum, die Situation von Printmedien schlechter zu reden als sie ist. Den Grund für diesen Niedergang kennen wir alle: Unsere Nutzungsgewohnheiten haben sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Darum geht es unaufhaltsam bergab, bisher aber recht langsam.
Ich glaube allerdings, dass wir allmählich an einen entscheidenden Punkt kommen. Die Schneemassen auf dem Mediengletscher kommen ins Rutschen. Ein Lawinenabgang könnte die Industrie ins Tal reißen.
Das gilt besonders für die Regionalzeitungen, die ihre Umsätze immer noch zu fast 90 Prozent mit ihren Printprodukten erwirtschaften (siehe Grafik). Inzwischen sind diese Zeitungen so teuer, dass sie sich kaum noch jemand Im Einzelverkauf leisten will, und dass immer weniger Spätis, Lotto-Läden und Supermärkte sie anbieten. Ich jedenfalls habe ich neulich nicht geschafft, eine Zeitung zu kaufen.

Die Preise lassen sich also schwer noch weiter erhöhen, und trotzdem wird es immer kostspieliger, Lokalzeitungen auszuliefern. Denn schließlich müssen die Zeitungsausträger:innen dieselben Strecken zurücklegen, auch wenn die Abstände zwischen den einzelnen Briefkästen immer länger werden, da ja immer weniger Leute Zeitungen beziehen. Also wird es eh dauernd teurer, Zeitungen zuzustellen – und dann steigt wieder der Mindestlohn.
Meinem Eindruck nach – ohne dass ich über Insiderwissen verfüge – könnte bald ein Punkt erreicht sein, ab dem das Ganze sich nicht mehr lohnt. Der Kipppunkt. Dann machen viele Zeitungen dicht.
Das Werbefernsehen stirbt
All das ist möglicherweise nicht neu. Was mir allerdings unbekannt war, ist die Lage des linearen Werbefernsehens. Und damit meine ich nicht den verzweifelten Versuch von RTL, schon wieder eine „Stefan Raab Show“ zu etablieren, diesmal indem er zur Hauptsendezeit Penisse zu lustigen Tierchen verknotet, wie in der vergangenen Woche.
https://www.dwdl.de/nachrichten/103853/ein_penis_zur_primetime_medienaufsicht_prft_raabshow/ (Öffnet in neuem Fenster)Die Verzweiflung dieser Aktion ist allerdings Symptom einer Krise. Gerade bricht die Sehdauer (die Anzahl der Minuten, die die werberelevante Zielgruppe am Tag mit Fernsehen verbringt) im dritten Jahr in Folge stark ein, im August um 12 Prozent. Ein deutlicher Negativ-Rekord. Auch die Werbespoterlöse sind ungewöhnlich schlecht, so wurde es bei RTL intern kommuniziert.
Öffentlich spricht RTL-Deutschland-CEO Stephan Schmitter erfreulich transparent davon, dass der Streamingdienst RTL+ bald den Großteil des Geschäfts ausmachen muss, weil das lineare Fernsehen wegbricht. Im November sagte er im OMR-Podcast (Öffnet in neuem Fenster), RTL arbeite auf einen Kipppunkt hin, zu dem Streaming mehr Umsatz machen muss als TV. So ist es auch zu verstehen, dass RTL gerade den Pay-TV-Anbieter Sky aufgekauft hat. Konkurrent Pro7sat1 hat es aufgegeben, diesen Sprint hinzubekommen, und sich stattdessen an den Berlusconi-Konzern nach Italien verkauft.
Bisher war die RTL-Zielvorgabe für das Erreichen dieses Kipppunktes das Jahr 2029. Doch diese Vorgabe muss nun offenbar viel schneller erreicht werden. Das neue Ziel teilte der Chef jetzt der gesamten Belegschaft mit: 2026. Bei RTL soll also ab dem kommenden Jahr das Wachstum im Streaming die schwindenden Fernseh-Umsätze ausgleichen. Bis dahin müssen noch einige Penisse verknotet werden.
Deprimiert? Darum geht es mir nicht. Ich habe nur den Eindruck, dass viele von uns – Journalist:innen, User, der Kulturstaatsminister – gedanklich in einer Welt leben, die es nicht mehr gibt. Das ist gefährlich, denn wenn der Kipppunkt da ist, sind wir nicht gut vorbereitet. Amerikanische, chinesische, russische Plattformen werden aufsammeln, was uns gerade durch die Finger rinnt. Wir müssen eine neue Infrastruktur für unsere Öffentlichkeit aufbauen, statt die Probleme von gestern zu lösen.
Bis nächsten Montag
👋 Sebastian
PS:
Zwei Videos möchte ich dir noch ins Herz legen.
Neue Krautreporter-Recherche im ZDF
Zum einen die aufwändige Recherche meiner Kollegen Bent Freiwald und Lea Schönborn (Öffnet in neuem Fenster) von Krautreporter gemeinsam mit dem ZDF Magazin Royal mit Jan Böhmermann. Es ist eine wichtige Recherche, denn sie zeigt, wie die AfD Schulen zu einem Machtinstrument macht. Das Problem: Das System Schule ist nicht gut auf den Angriff vorbereitet. Und an manchen Schulen ist das Klima bereits gekippt. Hier geht es zu Teil 1:
https://krautreporter.de/kinder-und-bildung/6076-ich-glaube-die-afd-will-uns-lehrkraf[%E2%80%A6]aign=share-url&utm_medium=editorial&utm_source=blaupause.community (Öffnet in neuem Fenster)Die Sendung ist bei YouTube und in der ZDF-Mediathek seit Freitag verfügbar.
https://youtu.be/R7lm6TN4twg?si=ZXQUbYCoXyLB4G6c&t=405 (Öffnet in neuem Fenster)Update von „Was bisher geschah“
Und noch einen Nachtrag zur Blaupause von vor zwei Wochen, in der es um den erstaunlichen Erfolg der Mitgliedschaftskampagne des Podcasts ging. In nur 3 Wochen habt das Team inzwischen 70 Prozent des 4.000-Mitglieder-Ziels erreicht. Mein Steady-Kollege Justus Mache hat mit „Was bisher geschah“-Producerin Simone Terbrack ein Interview aufgenommen darüber, wie sie diese Kampagne so stringent und erfolgreich in kürzester Zeit geplant und durchgezogen hat. Für alle in einer ähnlichen Situation eine sehr nützliche halbe Stunde.
https://youtu.be/Ix8GMAS3C-A?si=US8H6TdJKcxBO-_E (Öffnet in neuem Fenster)🤗 Fand ich hilfreich (Öffnet in neuem Fenster) 😐 war ganz okay (Öffnet in neuem Fenster) 🥱 für mich uninteressant (Öffnet in neuem Fenster)
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Im Mitglieder-Bereich geht es diese Woche um Highlights aus dem neuen Online-Audio Monitor.